Hyper Connection: von der Notwendigkeit des Abschaltens
Nach dem Aufwachen checken Sie als erstes Ihr Handy? Sie spüren es in der Tasche vibrieren, obwohl Sie es gar nicht bei sich haben? Benachrichtigungstöne bestimmen Ihren Tagesrhythmus? Wenn Sie diese drei Fragen mit „Ja“ beantworten, leiden Sie höchstwahrscheinlich an Hyper Connection. Dies ist ein immer häufiger auftretendes Leiden, das den Stress in die Höhe schnellen lässt und paradoxerweise ein Gefühl der Isolation nährt.
Auf die Frage nach ihrer Nutzung digitaler Tools* antworten 7 von 10 Erwachsenen, dass sie süchtig sind. An der Spitze stehen Führungskräfte, die mehr als 7 Stunden vor dem Bildschirm verbringen und sagen, dass sie nicht länger als einen Tag auf den Bildschirm verzichten können. In den letzten rund zwanzig Jahren haben Computer und Smartphones einen unverhältnismäßig breiten Raum in unserem täglichen Leben eingenommen. Per Textnachricht, Chat oder Videochat sind wir inzwischen zu jeder Tageszeit erreichbar, mit der Folge eines wachsenden Gefühls der Erschöpfung.
Kognitive Überlastung
Wir werden nicht nur unauffällig gefordert, sondern auch gezwungen, immer schneller zu antworten. Die Verwaltung von E-Mails ist Berichten zufolge die Hauptursache für Stress bei der Arbeit. Eine Aufgabe, deren Umfang 30 % des Arbeitstages eines Angestellten ausmacht und die jeden zweiten Manager dazu zwingt, auch abends noch dranzubleiben und zu versuchen, die täglich eingehenden 50 E-Mails zu beantworten. Durch die Coronakrise und die zunehmende Verbreitung von Telearbeit nimmt die Informationsüberflutung zu.
Darüber hinaus setzt dieser ständige Nachrichtenfluss auf Multitasking, was unser Gefühl der Überforderung noch verstärkt. Und das zu Recht. „Unser Gehirn ist nicht in der Lage, zwei Dinge auf einmal zu tun. Er wechselt schnell von einer Aufgabe zur anderen. Je komplizierter die Aufgabe ist, desto länger dauert es, bis unser Gehirn wieder konzentriert ist.“ erläutert Paul Brazzolotto, Doktor der kognitiven Psychologie und in der Management-Beratungsagentur Cog’X für Studien zuständig. In einer solchen Situation nimmt unsere Produktivität ab, aber nicht nur das. Auch die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wird beeinträchtigt.
Und auch bei einer Videokonferenz findet man keine Ruhe. Diese Aktivität beansprucht unsere kognitiven Fähigkeiten ebenfalls sehr. Man sieht seinem Gesprächspartner nämlich nie in die Augen, denn jeder schaut ein paar Zentimeter unter seine Kamera. Wir sind jedoch daran gewöhnt, durch die Analyse winziger Signale (Blicke, Gesten usw.) zu kommunizieren, und das Fehlen von normalem Augenkontakt ist eines der Haupthindernisse bei Videokonferenzen per Zoom oder Teams.
Digitale Leine
Hyper Connection führt jedoch auch zu Abhängigkeit. Das Smartphone ist immer zur Hand und wird zur unverzichtbaren Prothese, um sich eine tägliche Dosis Dopamin, das Hormon der unmittelbaren Lust, zu verschaffen. Und die Interface-Designer haben das verstanden: unendliches Scrollen, Likes Ihrer Posts usw. „Die Plattformen werden geschaffen, um unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und uns zu veranlassen, so lange wie möglich zu bleiben, indem sie die Kenntnis des Gehirns ausnutzen, das nach Neuem und nach Inhalten sucht, die zu uns passen,“ analysiert Paul Brazzolotto.
Daher wird unser Handy zu einem echten digitalen Schmusetuch, zu einem Objekt der Beruhigung, das wir ständig zücken und das sich hinterlistig in alle unsere Beziehungen einmischt. So benutzen 80 % der Franzosen ihr Mobiltelefon während des Essens mit der Familie oder eines Abends mit Freunden. Zu viele Informationen, die zu schnell aufgenommen werden, führen zu einer kognitiven Überlastung, die nur durch Ruhe und Stille behoben werden kann.
Unser Gehirn hat sich an die Überlastung gewöhnt und seine Konzentrationsfähigkeit nimmt drastisch ab. So betrug die Konzentration vor einem Bildschirm 2004 3 Minuten, während sie 2012 noch bei 1 Minute lag - heute bei etwa 40 Sekunden.
Die Eltern erziehen
Nach Meinung von Nicolas Poirel, Professor für Entwicklungspsychologie und Autor des Buches „Votre enfant devant les écrans, ne paniquez pas“ (Ihr Kind am Bildschirm, keine Panik), ist es für Eltern und Kinder gleichermaßen wichtig, dem Gehirn Pausen zu gönnen. „Man muss nicht ständig online sein“, ob es sich um E-Mails aus dem Büro oder Gespräche mit Schulfreunden handelt. Die Eltern müssen mit gutem Beispiel vorangehen und für die Interaktion mit ihrem Kind verfügbar bleiben. Der Autor meint: „Man muss dem Kind gemeinsame Aufmerksamkeit schenken und gemeinsam mit ihm fernsehen, um mit ihm darüber sprechen zu können“.
Das gilt besonders für die ersten Lebensjahre, wenn es die Welt mit seinen Sinnen entdeckt. Manuelle Tätigkeiten sind passivem Verharren vor dem Bildschirm vorzuziehen, um die optimale Entwicklung des Gehirns zu gewährleisten, den Schlaf zu fördern, Probleme mit Übergewicht oder Augenerkrankungen zu vermeiden.
Dieses Recht auf Abschalten in Anspruch zu nehmen, indem wir uns Gelegenheiten zur Flucht, zur Meditation, zur direkten Kommunikation, zum Lesen oder zur Ausübung einer kreativen Tätigkeit verschaffen, ist wesentlich für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit unseres Gehirns. Unsere Gesundheit steht auf dem Spiel.
* Hyper-Connection-Barometer, entwickelt vom Institut BVA für die Fondation April.